Kommentar 1

Die Schilderung lässt schon hier erkennen, dass nur die Regeln anerkannt werden, die für den Betroffenen vernünftig und einsehbar sind. Davon abweichende Regeln fordern zum Widerspruch oder zu oppositionellem Verhalten heraus. Es steht jedoch zu vermuten, dass derartige Regelüberschreitungen vorzugsweise in Situationen stattfinden, in denen sich der Betroffene unwohl, nicht geborgen oder abgelehnt fühlt.

Kommentar 2

Frühzeitige Kränkungen oder Herabwürdigungen von Fähigkeiten (hier: nicht malen zu können) führen zu Komplexen, die mitunter lebenslang beibehalten und trotz objektiv erkennbarer Talente nicht überwunden werden können: So werden Neigungen nicht weiterentwickelt und aus eigenem (?) Antrieb unterdrückt. Der Betroffene vermied es bis heute, jegliche von ihm angefertigten Gemälde, Gedichte oder Kompositionen (wörtlich) „aus Angst vor Kritik und vor entdeckbaren Fehlern“ anderen oder gar einem größeren Publikum zu präsentieren – was letztendlich sein introvertiertes Verhalten verstärkte.

Kommentar 3

Im Gegensatz zu stark schwankenden Schulleistungen in Hauptfächern irritierte die „4“ in Schrift, da sie offensichtlich auch durch Anstrengung nicht verbessert werden konnte. Unbefriedigende, aber auf eigene Motivation hin rasch verbesserbare Leistungen, lösen solange kein Unbehagen aus, wie die volle Kontrolle über das Geschehen erhalten bleibt. Dieses mag eine von mehreren möglichen Erklärungsmustern für die häufige Lehrerbewertung von Schülern sein: „könnte mehr, wenn er wollte“. Es erscheint, dass in diesem „Laissez faire“ auch ein stiller Protest gegenüber einigen Pädagogen zum Ausdruck kommt: „...Ihr könnt mich mal...ich bin Euch überlegen und kann selbst entscheiden ob ich einen Einser oder Vierer schreibe...“ Im übrigen ist die geläufige Vorstellung zu differenzieren, ein schlechtes Schriftbild bessere sich nur unter Stimulanzienwirkung. Betroffene Kinder, die sich (ausnahmsweise) in einer völlig entspannten und geborgenen Umgebung befinden, können sehr wohl ein altersgerechtes Schriftbild zustandebringen.

Kommentar 4

Traumwelten (bei ADS) stellen Zufluchtsorte aus der realen Welt dar, die überwiegend angsterfüllt erlebt wird. In Traumwelten fühlen sich ADS-Betroffene sicher und geborgen – hier werden sie nicht länger missverstanden und mit – aus ihrer Sicht - sinnlosen Regeln konfrontiert.


Kommentar 5

Immer wieder erfahren ADS-Betroffene in der Kommunikation mit anderen Menschen eine oft Ohnmacht auf ungerechtfertigte Vorhaltungen oder Kritik. Im Moment der Auseinandersetzung ist eine sachliche Entgegnung nicht möglich. Es verbleibt oft nur das Schweigen, ein Fluchtreflex oder alternativ: impulsive Wortäußerungen, die die bestehenden Differenzen weiter verschlimmern. In der Nachbearbeitung werden derartige Episoden vom ADS-Betroffenen als zutiefst selbstwertmindernd mit starken - meist autoaggressiv ausgelebten - Wutausbrüchen empfunden. Ständige Versagenssituationen wie diese nähren den Boden einer depressiven Grundstimmung.

Kommentar 6

Die mütterliche Überbehütung, die das Leben dieses ADS-Betroffenen schon seit der frühesten Kindheit prägte, fördert die Unselbständig und schürt die Versagensangst. Dieses Beispiel illustriert, wie eine etwaige ADS-Veranlagung durch Verhaltensweisen anderer (hier: die Mutter) krankhafte Symptome (Angst vor Unabhängigkeit) beim Betroffenen kreiert. Sowohl die Ängste der Mutter vor Erziehungsfehlern als auch ihre eigenen Abhängigkeitswünsche vom Säugling werden übertragen auf das ADS-veranlagte Kind. Später leidet auch dieses unter ständigen Trennungsängsten (s.a. Kindergartensituation). Latente Trennungsängste induzieren neue Abhängigkeitsszenarien (zu Personen, Konsumzwang, stofflichen Süchten).

Kommentar 7

Hausaufgabenstellung und Jobvermittlung durch Lehrer, Eltern, Arbeitsamt... sind „extrinsiche“ Motivationen – entspringen also nicht eigenen und selbstformulierten Bedürfnissen. Derartige Motivationen führen bei ADS-Betroffenen aber zu rascher und regelmäßiger Ermüdung mit frühzeitigem Konzentrationsmangel, zu deren Überwindung es ständiger Belobigung durch andere Personen bedarf. Bleiben Lob und unmittelbare Anerkennung aber aus, kann oft ein Projekt nicht fortgesetzt werden und wird abgebrochen. Dies schürt Depressivität und es entwickeln sich verschiedene Projektionen („Hass auf andere“), um die erlebte „Inkompetenz“, für sich selbst zu sorgen, entweder zu verdrängen oder zu verleugnen.


Kommentar 8

Diese Aussage lässt erkennen, dass eine „intrinsische Motivation“ – aus sich selbst heraus gefunden werden muss, um aufmerksam und ausdauernd „am Ball“ zu bleiben. Wäre für die Aufmerksamkeit nur eine „definierte Gesamtmenge eines Neurotransmitters“ verantwortlich, müsste in jedem Fall – also nach entsprechendem Ressourcenverbrauch – zu bestimmter Zeit die Aufmerksamkeit und Ausdauer deutlich nachlassen. Intrinsische Motivationen (hier: z.B. Neugier) sind aber verantwortlich, nahezu unbegrenzte Konzentration zu ermöglichen. Außer Neugier gibt es eine ganze Reihe weiterer intrinsischer Motivationen (s.a.nächster Kommentar)

Kommentar 9

Offensichtlich ist die „Angst vor Versagen“ ein weiterer sehr wichtiger Aktivator für Aufmerksamkeit.

Eine zunächst langweilige Aufgabe wird durch das Aufschieben auf die „lange Bank“ zur angemessenen Herausforderung und kann erst unter erheblichem Termindruck bewältigt werden. Offensichtlich wird die Angst zur notwendigen „Stimulanz“, Routinearbeiten zu erledigen. Dabei löst der „kleinstmögliche Zeitraum, noch ein angemessenes Ergebnis zu erledigen“, einen Kick aus, der gern zur eigenen Strukturierung und Überstimulierung ablenkender Gedanken in Anspruch genommen wird. Offensichtlich erklärt diese – unbewusste – Verhaltensweise, warum Betroffene sich immer wieder selbst in Stresssituationen hineinmanövrieren und damit verbundene Versagensängste systematisch Daueranspannungen (mit zahlreichen somatisierten Symptomen wie Spannungskopfschmerzen, Herzjagen unter Adrenalinausstoß) verursachen.

Kommentar 10

Der Verfasser lässt mit dieser Darstellung gewiss seine überdurchschnittlich rasche Auffassungsgabe erkennen, wenn er mit nur 20% der Unterrichtszeit aufmerksam dem Unterrichter folgen und damit scheinbar mühelos ein Uni-Studium absolvieren kann. Aus der Schilderung wird deutlich, dass eine ständige Beschäftigung mit interessierenden Gedanken erfolgen muss. Anderenfalls droht das „Abgleiten“ in die Traumwelten, die für ständige kreative Beschäftigung reichliches Potential vorhält.

Kommentar 11

Das „Überfliegen der Seiten“ bedeutet eine Beschleunigung der Wahrnehmungsgeschwindigkeit mit deren Hilfe es gelingt, aufmerksam zu bleiben und ein Abgleiten in Traumwelten d.h. die völlige Blockade neuer Informationsaufnahme zu verhindern.

Kommentar 12

Niedrige Geschwindigkeiten, Staufahrten verursachen rasche Ablenkbarbeit, Unkonzentriertheit sowie erhöhte Unfallgefahr. Geschwindigkeitsrausch – aber auch zusätzliche Geräuschquellen (hier Autoradio) – aktivieren die Vigilanz und somit die Fahrsicherheit. Andere Situationen – insbesondere menschliche Stimmen in unmittelbarer Umgebung – können hingegen eine erhebliche Ablenkung mit Konzentrationsmangel bewirken. Oft erscheint die vielzitierte „Reizfilterschwäche“ gerade dort von besonderer Bedeutung zu sein, wo Menschen zugegen sind. Deren Blicke, Stimmen und vermeintliche Gedanken können in ausgeprägter Form die emotionale Grundstimmung des ADS-Betroffenen beeinflussen. Diese Abhängigkeit ist m.E. in der grundsätzlichen Skepsis und Ängstlichkeit anderen Menschen gegenüber begründet, die oft als Bedrohung bei spärlichem eigenen Selbstwertgefühl erlebt wird. Weiterhin erklärt es, warum bei ADS verlässliche Bindungen schon in jungen Jahren oft nicht zustande kommen.


Kommentar 13

Erneut belegen diese Aussagen die Notwendigkeit „intrinsischer Motivation“ selbst bei überdurchschnittlich Begabten für einen guten Lernerfolg. Das objektive Leistungsvermögen kann erheblich von der subjektiven Selbsteinschätzung und ihrer damit verbundenen emotionalen Befriedigung abweichen. Dies erklärt sich m.E. mit mangelnder Selbstwahrnehmung und dem völlig fehlenden Selbstwertgefühl (s.a. Kommentar 3). „Große Unzufriedenheit“ selbst mit guten Leistungen ist auf den hohen Perfektionsanspruch zurückzuführen. Hiermit soll – erneut unbewusst – die eigene latente depressive Grundstimmung (“...ich bin nichts wert – andere können alles besser – man mag mich allenfalls nur mit perfekten Ergebnissen... “) verdrängt bzw. verleugnet werden.

Kommentar 14

Hier kommt u.a. ein schizoider Persönlichkeitszug (Anmerkung des Kommentators: seelisch gespalten) zur Darstellung, der bei denjenigen nahezu zwangsläufig entstehen muss, die nach außen zwar ein eigenes Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein vermissen lassen, sich aber in ihren Traumwelten ihrer vorhandenen potentiellen intellektuellen Ressourcen durchaus bewusst sind und diese auszuspielen gedenken. Die Übernahme z.B. „einfacher Rechentechniken“ aus der im Grunde tief verachteten realen Welt wird abgelehnt und das Ziel auf anderen, oftmals verblüffenden neuen Wegen gesucht und gefunden.

Kommentar 15

Die bisher geschilderten Strategien, Aufmerksamkeit zu erhalten und Langeweile zu vermeiden, führt zu riskantem Verhalten, das den Streß auf dauerhaft hohem Niveau behält. Die entsprechenden Mechanismen und Kontrollszenarien können eine vorzeitige Erschöpfung bedingen und rasche Überforderung auslösen. Zwangsläufig machen sich Angstsymptome – gekoppelt mit Fluchtreflexen und erhöhter Impulsivität – bemerkbar, wenn die Eigenkontrolle und die nach außen inszenierte aber selbst nicht dauerhaft und gefestigt empfundene Genialtiät ins Wanken gerät. Es ist die Angst vor Versagen und Entdeckung gleichermaßen, die zu Denkblockaden führt. Letztere - d.h. unmittelbare Folgen der Angst – nicht eine primäre Konzentrationsstörung bzw. Aufmerksamkeitsunfähigkeit via Transmitterdysbalance ! – verursachen „black outs“.

Kommentar 16

Hier kommt wieder die „Weltentrennung“ zum Vorschein. Da er (s.o.) „...das Rad lieber neu erfindet,. als etwas von anderen zu übernehmen...“ ist es beinahe zwangsläufig, dass er bei noch nicht verstandenem Unterrichtsstoff anderen mehr als sich selbst in seinen (unterbewussten) Traumwelten misstraut. Misstrauen aber fördert Denkblockaden. Letztendlich sind diese Blockaden Schutzmechanismen der Selbstkontrolle.

Kommentar 17

Ausgehend von der Überzeugung des Verfassers, „alle anderen können alles besser als ich“ wird fast jede Tätigkeit und Befähigung angstbesetzt erlebt, „andere könnten meine Unterlegenheit bemerken“. Seine eingeschlagene Konfrontationsstrategie zwingt förmlich dazu, nach Überwindung bestimmter, spezifischer Ängste (hier z.B. Höhen- oder Spinnenangst) das nächste angstbesetzte Szenario aus dem unerschöpflichen Pool denkbarer Tätigkeiten anzugehen. Stillstand bedeutete demnach, die noch nicht überwundenen Ängste wehrlos aushalten zu müssen. Die selbstkreierte Getriebenheit vom einen zum nächsten Projekt wie auch von der einen (kreativen) aber oft bedrohlichen Freizeitaktivität (hier: Fallschirmspringen) ist somit auch ein Versuch der Angstbewältigung.

Kommentar 18

Betroffene machen oft einen gehetzten Eindruck. Das unrastige Verhalten erweckt den Eindruck, jegliche Handlungspausen zu vermeiden. Befürchtet wird einerseits, etwas Wichtiges zu verpassen (Neugier ist eine „willkommene“ intrinische Motivationsverstärkung (s.a. oben); andererseits ist die meist selbstinszenierte Reizüberflutung eine Reaktionsbildung, um durch ununterbrochene Aktivitäten möglichst jeglichen externen Ablenkungsimpuls abzuwehren. Nach dem Gesagten („....andere können alles besser als ich ....“) wird evident, warum Ablenkung von außen vorwiegend als angstverstärkend erlebt wird.

Kommentar 19

Zunächst war der Patient im Erstinterview bei Schilderung seiner Biographie nicht in der Lage, seinen Platz einzunehmen. Ängstlich erregt kreiste er im Sprechzimmer umher, redete ohne Punkt und Komma und gestattete zunächst kaum die Möglichkeit erläuternde Fragen zu stellen. Es war ihm in dieser Situation nicht möglich, Blickkontakt zum Untersucher aufzunehmen. Ruhiges Sitzen und Blickkontakt gelangen ihm zeitgleich erst ca. 20 Minuten nach Einnahme von 10mg Ritalin, um damit die Untersuchungssituation zu entspannen.

Kommentar 20

Diese Selbsteinschätzung belegt, dass die geschilderten Süchte Kompensationsversuche der depressiven Stimmung sind. Das Suchen nach Ekstase, Kicks oder anderweitigen Stimulationen (u.a. auch stoffliche Süchte wie hier Alkohol oder bei vielen anderen Betroffenen auch Cannabis, LSD....) sind Strategien, die nach außen maskierte Depressivität in Eigenregie zu heilen. In genau dieser Absicht wurde auch die therapeutische Wirksamkeit des Methylphenidat (Ritalin) auf Hyperaktivität rein zufällig entdeckt, als Stimulanzien vor vielen Jahren erstmals in der Behandlung depressiver Krankheitsbilder eingesetzt wurden.


Kommentar 21

Sowohl depressive Verstimmungen als auch eher „ads-typische Symptomatiken“ (Kicks, ständige wechselnde Aktivitäten, rasche Stimmungsschwankungen, hohe Krititanfälligkeit...) sind nicht Ursache bzw. Primärsymptome des ADS sondern Folge des von der jüngsten Kindheit her bereits mangelnden Selbstwertgefühls. Die Sucht und Suche nach ständig neuen Stimulationen und Anerkennung sind somit Bewältigungsstrategien. Eine trennscharfe Abgrenzung „ADS versus Depression“ ist aus klinischer Sicht ohnehin kaum möglich und erklärt die hohe Co-Morbidität. Ähnliches gilt für die Abgrenzung von Angst/Panik-Attacken, Zwangsstörungen und Essstörungen gegenüber ADS-typischen Verhaltensmustern. In der Langzeitbetrachtung von ADS-Erwachsenen ist ein zumindest zeitweilig paralleles oder zeitversetztes Auftreten o.g. Co-Morbiditäten festzustellen. Gemeinsame Wurzeln machen m.E. eine endlose akademische Differenzierung für das therapeutische Vorgehen oftmals entbehrlich. In allen Fällen steht die Behandlung des kranken Selbstwertgefühls mit Zuwendung, Verstehen und Anerkennung gfls. in Verbindung mit Stimulantien bzw. modernen Antidepressiva im Vordergrund.